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Geburt einer Nation

Artikel über die Verhandlungen zur Entstehung des Deutschen Reichs.

Nach der Schlacht bei Sedan scheint die nationale Einigung zum Greifen nah, als ungeahnte Probleme auftauchen. Doch dem preußischen Staatsmann Otto von Bismarck gelingt es, das Deutsche Reich aus der Taufe zu heben

Endlich! Die Erleichterung steht Preußens Ministerpräsidenten Otto von Bismarck ins Gesicht geschrieben, als er seinen Mitarbeitern verkündet: „Die deutsche Einheit ist gemacht und der Kaiser auch.“ Bis dahin war es ein steiniger Weg. Dass die süddeutschen Staaten Schwierigkeiten machten, hatte Bismarck noch erwartet. Doch als sich der preußische König Wilhelm I. weigerte, die Kaiserwürde anzunehmen, stand plötzlich alles infrage. Bismarck musste seine ganze Überredungskunst einsetzen, um den alten Monarchen irgendwie umzustimmen.

Mit dem Ende des napoleonischen Kaiserreichs war das wichtigste außenpolitische Hindernis für einen deutschen Nationalstaat Nur die süddeutschen Staaten zierten sich noch. Lediglich Baden sprach sich vorbehaltlos für einen Anschluss an den von Preußen dominierten Norddeutschen Bund aus — Großherzog Friedrich I. von Baden war Wilhelms Schwiegersohn. Bayern und Württemberg hingegen zeigten Bismarck die kalte Schulter. Wie konnte man sie von der Einheit überzeugen? Hier gingen die Meinungen auseinander.

Bayern und Württemberg müssen erst noch überzeugt werden

Wahrend Preußens Kronprinz Friedrich Wilhelm dafür plädierte, massiven Druck auszuüben, setzte Bismarck auf den Verhandlungsweg, auch um den Schein der Freiwilligkeit zu wahren. Zudem vertraute er darauf, dass sich auch die Könige von Bayern und   dem spontan aufgekommenen Patriotismus nach der Schlacht von Sedan nicht entziehen konnten. Hinzu kam: Wie sollten die beiden süddeutschen Staaten angesichts der wirtschaftlich engen Verflechtungen im Zollverein weiterhin selbstständig bestehen? Bismarck war sicher, dass man auch in München und Stuttgart über diese Frage nachdachte. Warum also sollte man den Beitritt erzwingen und damit anhaltenden Widerstand auslosen, wenn scheinbare Freiwilligkeit zur Grundlage einer soliden Partnerschaft werden konnte?

Trotzdem waren es schwierige Verhandlungen, die im Oktober und November 1870 in Versailles geführt wurden. Aber Bismarck war durchaus bereit, auf die Länder zuzugehen, sodass Bayern und Württemberg mit dem guten Gefühl abschließen konnten, Zugeständnisse herausgeschlagen zu haben. Bayern durfte seine eigene Eisenbahn-, Post- und Telegrafenverwaltung behalten und konnte damit Tag für Tag seine Eigenstaatlichkeit demonstrieren. Das Gleiche galt hinsichtlich der Post für Wittenberg. Hinzu kam, dass das bayerische Heer praktisch seine Selbstständigkeit bewahrte und der künftige Kaiser im Frieden nur ein „Besichtigungsrecht“ erhielt, um sich von der Kriegstauglichkeit der Truppen zu überzeugen. Auch der König von Württemberg besaß weiterhin das Recht einer eigenen Heeresverwaltung und der Ernennung von Offizieren.

Eigene Biersteuern in Bayern? Die sind für Bismarck kein Problem

Während man sich in München und Stuttgart Über die errungenen Zugeständnisse freute, hagelte es auf preußischer Seite massive Kritik an den sogenannten Reservatrechten (Sonderrechten) Bayerns und Württembergs. Eine eigene Post- und Eisenbahnverwaltung mochte man vielleicht noch hinnehmen, ebenso die eigenständige Bier- und Branntweinbesteuerung. Aber dass die Heere der beiden Staaten praktisch selbstständig bleiben durften, hielt man für mehr als bedenklich. Das Band, das das Kaiserreich einigen sollte, sei damit auf unzulässige Weise zugunsten einzelner Interessen gelockert worden, gaben die Kritiker zu bedenken.

Doch Bismarck blieb gelassen, und wie sich später zeigen sollte, völlig zu Recht. Er sah voraus, dass sich die Sonderrechte in Zukunft für das Reich als mehr oder weniger bedeutungslos erweisen würden. Tatsachlich bestand an der unbedingten Loyalität Bayerns und Württembergs nie der geringste Zweifel, im Gegenteil. Weil sie nicht das Gefühl haben mussten, Bismarck habe sie bei der Einigung über den Tisch gezogen, entwickelte sich zwischen München, Stuttgart und der preußischen Regierung ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis.

Bismarcks Taktik, den Schein der Freiwilligkeit zu wahren, hatte gesiegt. Der Abschluss der Vertrage mit den süddeutschen Staaten zwischen dem 15. und dem 25. November 1870 war sein ganz persönlicher Triumph.

Doch noch war langst nicht alles in trockenen Tüchern, denn die Kaiserfrage gestaltete sich nicht minder zäh. Als „alter Preuße“ setzte Wilhelm I. der neuen Würde erheblichen Widerstand entgegen. Das lag zum Teil an seiner Abneigung gegen alle Neuerungen überhaupt, aber auch an seiner Angst, preußische Tradition und Vergangenheit würden in einem geeinten Deutschland in Vergessenheit geraten.

Und nicht zuletzt störte es ihn wohl auch, dass die Idee, einem Hohenzollern die Kaiserkrone anzubieten, wahrend der 1848er-Revolution entstanden war. Damals hatte sich sein älterer Bruder Friedrich Wilhelm IV. als „König von Gottes Gnaden“ strikt geweigert, eine Krone aus der Hand von „Metzgern und Bäckern“ gemeint war die Frankfurter Nationalversammlung — entgegenzunehmen.

So war viel Überzeugungsarbeit nötig, um Wilhelm an die Kaiseridee zu gewöhnen, wobei Bismarck sowohl! vom Kronprinzen als auch vom Großherzog von Baden unterstützt wurde.

Mitte Dezember schrieb der König resigniert an seine Gemahlin Augusta: „Die Verhältnisse drangen mich zu etwas, was ich nur schweren Herzens annehmen kann und doch nicht mehr ausschlagen darf.“ Alle Probleme beseitigt? Weit gefehlt! Jetzt nämlich brach sich plötzlich der dynastische Dünkel Bahn. Wenn Wilhelm schon bereit war, das Unvermeidliche über sich ergehen zu lassen, dann wollte er kein „Deutscher Kaiser“, sondern „Kaiser von Deutschland“ werden, um den Machtzuwachs des Hohenzollernhauses aller Welt zu demonstrieren. Mühsam musste Bismarck seinem König erklären, dass verfassungsrechtlich gesehen nur der Titel „Deutscher Kaiser“ möglich war, da ein „Kaiser von Deutschland“ den „landesherrlichen Anspruch auf die nichtpreußischen Gebiete“ einbeziehe und somit nicht infrage kam.

Fürsten und Militärs sind die Gründer des deutschen Kaiserreichs

Auch damit war die Kaiserfrage noch keineswegs geklärt. Als das Deutsche Reich am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses Versailles aus der Taufe gehoben wurde, sah man sich gezwungen, die Titelfrage zu umgehen, sodass der Großherzog von Baden sein Hoch auf „Kaiser Wilhelm“ ausbrachte. Aber wenigstens musste Wilhelm die Kaiserkrone nicht aus der Hand von „Bäckern und Metzgern“ entgegennehmen, im Gegenteil. Es war Bayerns König Ludwig II., der ihm ganz offiziell die Krone anbot und auch die übrigen Herrscher der 22 deutschen Staaten und drei freien Städte dazu aufforderte. Die Vertreter des Volks spielten bei der Proklamation keine Rolle. Fürsten und Militärs waren die wahren Gründer des deutschen Kaiserreichs.

Bei allem Jubel über die nationale Einheit Deutschlands war freilich nicht zu übersehen, dass bereits an diesem Tag die Saat für den nächsten Krieg gelegt wurde. Die Zeremonie der Reichsgründung im Schloss des Sonnenkönigs war eine unglaubliche Demütigung der unterlegenen Franzosen, die das Verhältnis zwischen beiden Staaten nachhaltig vergiftete – und mehr als nur ein bitterer Wermutstropfen in Bismarcks politisch-diplomatischem Meisterstück.

Karin Feuerstein-Prasser, Geschichte 6/2020 S. 56ff